Art. 4 [Verfassungsänderung] vgl. Art. 123, 73, 74

     (1) Diese Verfassung kann nur durch Volksabstimmung geändert werden. Verfassungsändernde Gesetze sind angenommen, wenn ihnen die Mehrheit der Stimmberechtigten zustimmt. Gegenstand einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung kann nur ein Vorschlag sein, der vom Verfassungsrat (Artikel 5) dem Volk zur Entscheidung vorgelegt worden ist.

     (2) Stimmberechtigt sind
     1. alle deutschen Staatsbürger
     2. alle Bürger der Europäischen Union
     3. alle anderen Menschen, die seit mindestens acht Jahren Ihren rechtmäßigen auf Dauer gerichteten Lebensmittelpunkt in Hessen haben.
     Satz 1 Nr. 2 und 3 stehen unter dem Vorbehalt, daß der Ausländer keine staatsbürgerlichen Rechte eines anderen Staates innehat.
     Wer das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, übt das Abstimmungsrecht durch seine Eltern oder seinen Einzelvormund aus. Für wen ein Amtsvormund bestellt ist, kann nicht wählen.

     (3) Das Stimmrecht ist allgemein, gleich, geheim und unmittelbar. Der Tag der Stimmabgabe muß ein Sonntag oder ein allgemeiner Feiertag sein.

     (4) Das Verfahren der Volksabstimmung regelt das Gesetz.
 

Begründung:
Zu Absatz 1:
Artikel 4 tritt an die Stelle des jetzigen Art. 123 HV.

Die Vorschrift bestätigt die Verfassungstradition seit dem Dekret des französischen Nationalkonvents v. 21.9.1792 (La Convention nationale déclare qu'il ne peut y avoir de constitution que celle qui est accepté par le peuple" zit. nach E. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant, 1909, 334), daß nur das Volk Verfassungen schaffen und ändern kann. Von Art. 123 HV unterscheidet sich der Vorschlag wesentlich dadurch, daß das Verfassungsorgan Landtag an der Verfassungsänderung nicht mehr beteiligt ist und damit Verfassungsänderungen ohne Mitwirkung von Organen möglich sind, die ihre Existenz der Verfassung selbst verdanken.

Da das Volk wegen seiner Amorphität kaum in der Lage ist, die Fortschreibung der Verfassung und ihre Anpassung an neue Gegebenheiten und Herausforderungen von sich aus durchzuführen und das Instrument des Volksbegehrens zu schwerfällig hierfür ist, bedarf es eines Verfassungsrates, dessen Aufgabe allein darin liegt, dem Volk Vorschläge zur Verfassungsänderung zu unterbreiten und der dabei von politischen Interessen und Rücksichten so weit als möglich frei ist.

Art. 123 Abs. 2 HV bestimmt, daß eine Verfassungsänderung vom Volk als angenommen gilt, wenn sie mit der Mehrheit der Abstimmenden angenommen ist. Das kann zur Folge haben, daß eine kleine Minderheit letztlich Verfassungsänderungen durchsetzen kann, z.B. gäben bei einer Abstimmungsbeteiligung von 30 % und einer Zustimmung von 51% nur 15,3 % den Ausschlag. Wir schlagen daher vor, Verfassungsänderungen an die Zustimmung der Mehrheit der Stimmberechtigten zu koppeln. Verfassungsänderungen sollten von einer hohen Zustimmungsquote des ganzen Volkes getragen sein. Die Einrichtung des Verfassungsrates und die ihm zustehende Verfassungsinitiative einerseits und das hohe Quorum für Verfassungsänderungen andererseits schaffen einen ausgewogenen Mechanismus, der zum einen zu schwerfällig ist, um einen allzu leichtfertigen Umgang mit der Verfassung und blinden Aktionismus zu begünstigen, andererseits aber flexibel genug ist, um auf ein echtes Anpassungsbedürfnis zeitgerecht und problemorientiert reagieren zu können. Kontinuität und Flexibilität des Verfassungsrechts wird auf diese Weise optimal gewährleistet.

Zu Absatz 2:
Die höchste und unveräußerliche Gewalt des Volkes ist die verfassunggebende Gewalt. Unterhalb dieser Ebene, also kraft Verfassungsrechts kann das Volk auf die Ausübung von Staatsgewalt verzichten, bzw. die Staatsgewalt auf Verfassungsorgane delegieren. Es erscheint deshalb angemessen, im Zusammenhang mit der Verfassungsänderung die Frage des Stimmrechts zu regeln. Denn hier geht es um die eigentliche Volkssouveränität.

Satz 2 bringt zum Ausdruck, daß in einem republikanischen Staatswesen grundsätzlich jeder Mensch Mitglied des Staatsvolkes und deshalb stimmberechtigt ist, der an der realen Lebens- und Schicksalsgemeinschaft des Staatsvolkes auf Dauer teilnimmt. Stimmberechtigt sind deshalb nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern auch alle EU-Bürger und alle sonstigen Ausländer, die durch eine hinreichend lange Verweildauer in Hessen zu erkennen gegeben haben, daß sie sich hier nicht als Gäste aufhalten, sondern hier ihren Lebensmittelpunkt begründet haben. Satz 3 trägt dem Umstand Rechnung, daß Ausländer in der Regel eine fremde Staatsangehörigkeit haben. Das hätte, wenn sie dennoch stimmberechtigt wären, zur Folge, daß ihr politisches Stimmengewicht doppelt so groß wäre wie das deutscher Staatsbürger. Während diese nämlich auf regionaler Ebene nur in Hessen stimmberechtigt sind, ist ein Ausländer nach Maßgabe seines Heimatrechts u.U. auch in seinem Heimatland auf regionaler Ebene stimmberechtigt. Da in einer zunehmend verwobenen und interdependenten Weltordnung das politische Gewicht der Regionen von Bedeutung ist und nach der Zielsetzung des Art. 1 weiter an Bedeutung gewinnen soll, (was etwa auf europäischer Ebene im Rat der Regionen schon der Fall ist), führt das dazu, daß ein Ausländer, der insoweit über zwei Stimmrechte verfügt, einen politisches Gewicht einbringen kann, das doppelt so hoch ist wie das eines deutscher Staatsbürger. Das ist mit dem Demokratieprinzip nicht vereinbar. Ausländern kann in Hessen deshalb nur dann ein Stimmrecht zugestanden werden, wenn sichergestellt ist, daß sie auf ein eventuell anderweitig bestehendes Stimmrecht verzichten. Die doppelte Ausübung von Stimmrechten ist nur dann ausgeschlossen, wenn dies durch internationale Abkommen, europäisches Recht oder die Aufgabe der anderen Staatsangehörigkeit sichergestellt ist. Der Umstand, daß es nach dem Recht des Herkunftslandes womöglich kein Stimmrecht auf regionaler Ebene gibt, ist unerheblich, weil diese Situation von dem ausländischen Verfassungs- und Gesetzgeber jederzeit geändert werden könnte, ohne daß das Land Hessen darauf Einfluß nehmen könnte. Faktisch bedeutet das also, daß in Hessen nur stimmberechtigt ist, wer nicht die staatsbürgerlichen Rechte eines ausländischen Staates besitzt, es sei denn er besitzt neben der ausländischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. In diesem letztgenannten Fall wird zwar das doppelte Stimmgewicht hingenommen. Dies kann als Ergebnis eines Abwägungsprozesses auch vertretbar sein, ist aber nicht Aufgabe des Verfassungsgebers, sondern Aufgabe des einfachen Gesetzgebers.

Unser Vorschlag enthält keinen Ausschluß vom Stimmrecht für Minderjährige. Denn die Ausschließung von Minderjährigen entbehrt einer nachvollziehbaren Begründung. Vielmehr üben hier die Älteren einfach nur Macht über die Jüngeren aus. Der Einwand, daß es Kindern und Jugendlichen am nötigen Verständnis fehlt, kann nicht überzeugen. Eine Stimme bei politischen Wahlen und Abstimmungen auf Landesebene hat für das Schicksal des einzelnen nur eine geringe Bedeutung. Andererseits wird es allgemein akzeptiert, daß Dritte dem Kind rechtlich zurechenbar Rechtsgeschäfte über dessen Vermögen treffen können. Eine falsche Entscheidung im privaten Rechtsbereich kann dem Kind die Existenzgrundlage rauben. Eine falsche Stimmabgabe bei politischen Abstimmungen könnte nur dann von annähernd gleicher Bedeutung sein, wenn eine einzige Stimme den Ausgang der Wahl oder der Abstimmung entscheiden würde, eine Voraussetzung, die praktisch nie erfüllt ist.

Auch der Einwand, das Stimmrecht sei höchstpersönlich, kann nicht überzeugen. Natürlich muß es in einer Republik ausgeschlossen sein, daß Stimmrechte verkauft werden oder nach Art eines Patronats gebündelt werden. Das gleiche Stimmengewicht ist nur gewahrt, wenn jeder seine Stimme selbst abgibt. Der Grund dafür ist, daß wirtschaftliche Macht und Abhängigkeit nicht in politisches Stimmengewicht sollen umgemünzt werden können. Dieser Konfliktbereich ist aber bei der Frage der gesetzlichen Vertretung von Kindern regelmäßig nicht tangiert.

Eine Ausnahme muß für Personen unter 16 Jahren gelten, für die ein Amtsvormund bestellt ist (§§ 1791b, 1791c BGB). Hier würde die Ausübung des Stimmrechts einer Vielzahl von Mündeln durch einen einzigen Bediensteten des Jugendamtes diesem ein Gewicht verleihen, das mit dem Grundsatz der gleichen Wahl vor allem deshalb nicht zu vereinbaren ist, weil Amtsvormünder regelmäßig in keinem auch nur annähernd persönlichen Verhältnis zu den Mündeln stehen wie ein Einzelvormund oder auch das mit der Ausübung der Vormundschaft betraute Vereinsmitglied bei Vereinsvormundschaft. Zudem üben Amtsvormünder öffentliche Gewalt aus. Die Amtsinhaberschaft hätte in diesem Fall das Stimmengewicht zur Folge und würde damit tendentiell zur Selbstlegitimation führen. Angesichts dessen erscheint es hinnehmbar, daß unter Amtsvormundschaft stehende Mündel vom Stimmrecht praktisch ausgeschlossen sind. Sie sind gegenüber anderen Mündeln auch in anderer Hinsicht benachteiligt. Amtsvormundschaft ist ein notwendiges Übel und ultima ratio bei der Sorge um unmündige Kinder und Jugendliche.

Nach Art. 74 HV ist vom Stimmrecht ausgeschlossen, wer entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft steht. Da die Entmündigung und Vormundschaft über Volljährige inzwischen abgeschafft ist, ist die Vorschrift obsolet. Es ist auch nicht nötig, für Personen, die nach § 1896 BGB unter Betreuung stehen, eine besondere Regelung zu schaffen. In den meisten Betreuungsfällen können die Betreuten selbst das Stimmrecht ausüben. In den Fällen, in denen Personen aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes daran gehindert sind, trifft sie kein anderes Schicksal als denjenigen, der nach Ablauf der Briefwahlfrist erkrankt und deshalb nicht das Wahllokal aufsuchen kann. Auch hier ist die Hinnahme des faktischen Ausschlusses vom Stimmrecht besser als die Ansammlung von Stimmrechten in der Hand der Betreuer, die den Betreuten nicht so nahestehen als daß gewährleistet wäre, daß sie bei der Stimmabgabe sich von deren mutmaßlichem Willen leiten lassen.

Nach Art. 74 HV ist ferner vom Stimmrecht ausgeschlossen, wer nicht im Vollbesitz der staatsbürgerlichen Rechte ist. Die Entziehung staatsbürgerlicher Rechte ist nur aufgrund der Verfassung und der verfassungsgemäßen Gesetze denkbar. Sie kann nicht der Verfassung vorausliegen. Im vorverfassungsrechtlichen "Naturzustand" sind alle Bürger gleichberechtigt. Deshalb kann die Entziehung staatsbürgerlicher Rechte zwar zum Stimmrechtsverlust für Wahlen und Abstimmungen aufgrund der Verfassung führen, nicht aber zum Stimmverlust bei Verfassungsänderungen.

Zu Abs. 3 u.4:
Diese Regelungen entsprechen dem jetzigen Art. 73 Abs. 2 und 3.

Kompatibilität:
Es gibt keine Kollisionen mit höherrangigem Recht.

Auch soweit der Vorschlag auch Ausländern ein Stimmrecht einräumt, führt dies nicht zwingend zu einer Kollission mit Bundesrecht. Zwar ergibt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 83, 37; 83, 60), daß nach dem Grundgesetz auch in den Ländern und auf kommunaler Ebene nur deutsche Staatsbürger stimmberechtigt sein können. Im Ergebnis wird dieser Grundsatz durch unseren Vorschlag nicht verletzt. Denn danach haben diejenigen, die eine fremde Staatsbürgerschaft besitzen, ohne zugleich auch die deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen, kein Stimmrecht, solange nicht durch ein internationales Abkommen oder durch Europarecht insoweit ein Doppelstimmrecht ausgeschlossen wird. Derartige Rechtsakte existieren nicht und sind nur denkbar, wenn das GG entsprechend geändert wird.

Ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen unserem Vorschlag und der o.g. Rechtsprechung zu Art. 20 GG besteht nur hinsichtlich Staatenloser. Diese hätten aber erst nach achtjährigem rechtmäßigen Aufenthalt in Hessen ein Stimmrecht. Das Staatsangehörigkeitsrecht sieht vor, Staatenlose vereinfacht einzubürgern. Die zuständigen hessischen Behörden haben es also in der Hand und sind deshalb auch insoweit dazu verpflichtet, einen verfassungsrechtlichen Konflikt dadurch zu vermeiden, daß sie entweder rechtzeitig die Einbürgerung vornehmen oder - sofern ein entsprechender Einbürgerungsantrag nicht gestellt wird, einen auf Dauer gerichteten Aufenthaltsstatus (Aufenthaltserlaubnis) versagen.

Auch die Ausübung des Stimmrechts Minderjähriger durch die Sorgeberechtigten steht nicht im Widerspruch zu höherrangigen Regeln. Zwar wird in der Staatsrechtslehre behauptet, das Wahlrecht sei höchstpersönlich und könne deshalb nicht von Vertretern wahrgenommen werden (Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz: GG Art. 38 Rn 32). Indessen zeigt die obige Überlegung, daß hier eine Differenzierung nötig ist.

Wenn Minderjährige bei der Ausübung des Wahlrechts durch ihre Sorgeberechtigten nicht vertreten werden können, führt das faktisch zum Verlust jeden politischen Einflusses. Die Geltendmachung von "Höchstpersönlichkeit" schützt also nicht die bürgerlichen Rechte der Betroffenen, sondern verhindert sie. Das Land sollte deshalb die Vertretbarkeit der Ausübung des Wahlrechts für Personen unter 16 Jahren offensiv, ggf. auch vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten. Sollte jedoch das Bundesverfassungsgericht die Regelung für grundgesetzwidrig halten und deshalb für nichtig erklären, tritt die Funktion des Art. 1 Abs. 2 ein, so daß das Land auf eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes hinwirken muß.

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