Art. 3 [Widerstandsrecht; Umsturz] vgl. Art. 147, 148

     (1) Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt ist jedermanns Recht, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

     (2) Sollte die Verfassung durch revolutionäre Handlungen ihre tatsächliche Wirkung auf kürzere oder längere Zeit verlieren, so sind alle, die sich beim Umsturz oder danach einer Verletzung der Verfassung schuldig gemacht haben, strafrechtlich oder auf eine andere zur Rechenschaft zu ziehen, sobald der verfassungswidrige Zustand wieder beseitigt ist. Soweit das Strafrecht Anwendung finden soll, gilt Artikel 24 Nr. 5 nicht.
 

Begründung:
Zu Absatz 1:
Im Unterschied zu Art. 147 Abs. 1 HV kennt der Vorschlag keine Pflicht zum Widerstand, sondern nur ein Recht. Die Verfassung kann kein Martyrium zur Verteidigung der Verfassung verlangen. Es ist auch lebensfremd, jeden, der einer solchen Pflicht nicht nachkommt, später zur Verantwortung zu ziehen. Unter diesem Umstand ist eine Pflicht zum Widerstand nur "Verfassungslyrik", von der eine Verfassung frei gehalten werden sollte. Art 147 Abs. 2 HV, der jedermann dazu verpflichtet, die Strafverfolgung beim Staatsgerichtshof zu erzwingen, ist aus den selben Gründen überflüssig.

Zu Absatz 2:
Absatz 2 übernimmt den Text des Art. 148 HV und stellt klar, daß die Rechenschaft, zu der diejenigen zu ziehen sind, die sich bei einen Umsturz oder danach schuldig gemacht haben, sowohl mit Hilfe des Strafrechts als auch auf andere der Versöhnung dienende Weise erfolgen kann. Damit sollen die Möglichkeiten eröffnet werden, die beispielsweise in den Wahrheits- und Versöhnungskommissionen liegen, wie sie in Südafrika zur Aufarbeitung von Regierungskriminalität und gesetzlichem oder außergesetzlichem Unrecht unter verfassungsfeindlichen Bedingungen erfolgreich erprobt worden sind. Es bleibt dem verfassungsmäßigen Gesetzgeber freigestellt, welche Form der Rechenschaft er wählen will. Sofern er sich für Strafverfolgung entscheidet, muß es möglich sein, auch diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die Ihre Unrechtstaten unter dem Schild einer Rechtsordnung getan haben, die dies geduldet oder gefördert hat. Deshalb soll sich niemand damit entschuldigen dürfen, daß die Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung nicht verboten oder strafbewehrt war. Deshalb findet Art. 24 Nr. 5 keine Anwendung. Wer sich im Zusammenhang mit einem Umsturz schuldig macht, muß sich nach den Maßstäben behandeln lassen, die vor dem Umsturz galten.

Kompatibilität:
Absatz 1 entspricht Art. 20 Abs. 4 GG und ist damit mit Bundesrecht vereinbar.

Absatz 2 ist ebenfalls mit Bundesrecht vereinbar. Das BVerfG hat im Zusammenhang mit den Mauerschützenprozessen das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bei grobem Umrecht für unverbindlich gehalten, obwohl das GG gar keine Ausnahmetatbestände vorsieht (vgl. BVerfGE 95, 96)

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© by Arbeitsgruppe "Schöne Aussicht" 1998