Art. 10 [Recht auf Leben] bisher Art. 3

     (1) Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben.

     (2) Das Schaffen konkreter Gefahren für das Leben von Menschen ist mit Absatz 1 nicht vereinbar; das Schaffen einer nicht ganz fernen Gefahr, die sich als die Verletzung des Rechts auf Leben eines Menschen realisieren kann, kann nur durch Gesetz zugelassen werden.

     (4) Das Recht auf Leben kann durch Gesetz demjenigen gegenüber eingeschränkt werden, von dem eine gegenwärtige und unmittelbare Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen ausgeht. Die Todesstrafe ist mit Absatz 1 unvereinbar.
 

Begründung:
Zu Absatz 1:
Das Recht auf Leben wurde in der deutschen Verfassungsgeschichte erstmals in der Hessischen Verfassung (Art. 3) formuliert.

Aus dem Grundsatz der Menschenwürde, wonach jeder Mensch um seiner selbst willen lebt, folgt, daß niemand das Recht hat, über das Leben anderer zu verfügen. Das eigene Leben ist der unantastbare Besitz jedes Menschen. Deshalb hat jeder Mensch ein Recht auf Leben.

Zu Absatz 2:
Das Recht auf Leben verletzt nicht nur, wer einen anderen tötet, sondern auch, wer einen anderen einer konkreten Todesgefahr aussetzt. Denn auch ein derartiges "Spiel" mit dem Leben anderer verletzt deren Menschenwürde. Es gibt aber auch Gefahren, die in diesem Sinne nicht ganz konkret sind, aber doch nicht ganz fernliegend sind, sogenannte gefahrgeneigte Situationen. Das sind z.B. Situationen, in denen Menschen mit Aufgaben betraut werden, die eine nicht ganz ferne Gefahr des Lebenseinsatzes zur Folge haben (Polizei, Feuerwehr), die Auferlegung von Impfrisiken, aber auch die Schaffung sogenannter Restrisiken etwa bei der Schaffung von Atomanlagen oder bei der Stationierung von Massenvernichtungswaffen. Die Schaffung solcher gefahrgeneigter Situationen soll unter Gesetzesvorbehalt gestellt werden. Derartige Risiken dürften allerdings meist in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fallen, so daß die Vorschrift nur selten Anwendung findet.

Wir sind der Meinung, daß nicht jede Schaffung einer Gefahr für das Leben schon als eine Verletzung der Menschenwürde betrachtet werden kann. Solange das Leben nicht gewissermaßen zum Wetteinsatz in einem Spiel mit offenem Ausgang gemacht wird, sondern nur Gefahren geschaffen werden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eher nicht eintreten werden, wird der Mensch nicht notwendig für fremde Zwecke instrumentalisiert. Gleichwohl soll es dem Gesetzgeber auferlegt werden, darüber zu entscheiden, ob solche Risiken auferlegt werden sollen.

Zu Absatz 3:
In einer Situation, in der Leben gegen Leben steht, darf das Recht auf Leben desjenigen, der diese Situation geschaffen hat, eingeschränkt werden, ohne daß dadurch seine Menschenwürde verletzt wird. Denn sofern er es in der Hand hat, die Situation aufrechtzuerhalten oder zu beenden (z.B. Amokläufer), wird er nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns erniedrigt, sondern behält die eigene Möglichkeit, sein Leben zu erhalten und sein Recht auf Leben zu wahren. Wenn er die Situation nicht in der Hand hat, steht das Gebot der Achtung vor seinem Leben in einem unauflösbaren Widerspruch zu dem Gebot der Achtung und des Schutzes des Lebens anderer. In dieser Situation wird das Gebot der Menschenwürde unerfüllbar. Die Verfassung kann deshalb bestimmen, daß den Nachteil dieser Situation grundsätzlich der zu tragen hat, in dessen Sphäre die Ursachen für das Dilemma fallen.

Eine derartige unauflösbare Situation, in der Leben gegen Leben steht, besteht nicht hinsichtlich der Todesstrafe. Dabei handelt es sich nämlich um eine nachträgliche Sanktion, durch die das Mordopfer nicht mehr gerettet werden kann. In der Todesstrafe wird der Delinquent deshalb zum bloßen Objekt gesellschaftlicher Strafbedürfnisse. Die Sanktion hat weder seine Abschreckung noch seine Resozialisierung, sondern ausschließlich seine Vernichtung zum Ziel. Deshalb ist die Todesstrafe entgegen häufig vertretener konservativer Einschätzung mit dem Recht auf Leben unvereinbar.

Kompatibilität:
Sowohl der Gesetzesvorbehalt für Restrisiken als auch die Feststellung der Unvereinbarkeit der Todesstrafe mit dem Recht auf Leben stellt eine Verstärkung des rechtlichen Lebensschutzes jedenfalls dann dar, wenn man der Meinung ist, daß das Grundgesetz insoweit einen geringeren Schutz garantiert. Der Wortlaut des Grundgesetzes läßt hier jedenfalls eine restriktivere Interpretation zu.

Hinsichtlich des Verbots der Todesstrafe geht die diesbezügliche Interpretation der Menschenwürde in der Hessischen Verfassung jedenfalls einem etwaig entgegenstehenden Bundesrecht vor (vgl. Erläuterung vor Art. 7 )

Hinsichtlich des Gesetzesvorbehaltes für Restrisiken gilt das nicht. Wenn die Auferlegung von Restrisiken durch Gesetz möglich ist, so zeigt dies, daß diese Auferlegung als solche noch nicht die Menschenwürde verletzt; andernfalls könnte sie auch nicht durch Gesetz erfolgen. Der Gesetzesvorbehalt kann deshalb nur für Maßnahmen aufgrund Landesrechts Bedeutung haben. In der Praxis wird der direkte Effekt gering sein. Die Landesregierung hat jedoch nach Art. 1 Abs. 2 die Pflicht, auf eine entsprechende Regelung auf Bundesebene hinzuwirken.

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