B. Vorverständnisse
Fragen ...
Bevor man im einzelnen über die Inhalte einer Verfassung nachdenken kann, muß zunächst geklärt werden, was wir unter einer Verfassung überhaupt verstehen wollen, wer sie schaffen und legitimieren kann und wie sie wirken soll. Diese Fragen liegen auf einer anderen logischen Ebene als die Fragen nach dem eigentlichen Inhalt der Verfassung. Sie betreffen die politischen, ethischen und historischen Vorverständnisse, letztlich also das Selbstverständnis, nach dem Menschen, die über die Verfassung nachdenken, sich selbst als Individuen und in ihrer Beziehung zu der sie umgebenden Mitwelt verstehen. Je nach diesem Vorverständnis wird die Antwort auf die Frage, ob es überhaupt einer Verfassungsreform bedarf, und ggf, in welche Richtung diese gehen sollte, verschieden ausfallen. Im Streit um unterschiedliche Vorstellungen wird es deshalb immer weiterführen, wenn man diese Vorverständnisse zum Thema des Diskurses macht. Dazu muß man sich aber zuerst der eigenen Position reflexiv versichert haben.
...und Antworten
Wir schlagen vor, die oben gestellten Fragen nach dem verfassungspolitischen Vorverständnis wie folgt zu beantworten:
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Die Verfassung ist der Inbegriff jener Rechtsnormen, die die höchste Normebene im System der Rechtsordnung bilden und die deshalb durch nichts und niemand anderen legitimiert werden können als durch das Volk.
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Das Volk ist der Inbegriff menschlicher Individuen. Die Zugehörigkeit zum Volk vermittelt sich nicht durch tatsächliche oder mythische Verwandtschaft, sondern das Beiwohnen in jener tatsächlichen Lebensgemeinschaft, für die die Verfassung gelten soll: Wer ein Mensch ist und in Hessen lebt, ist auch Mitglied des Volkes. Es ist nicht möglich, daß einige Menschen einer Lebensgemeinschaft das Recht haben, zu bestimmen, ob andere Menschen der selben Lebensgemeinschaft zum Volk als verfassunggebender Gewalt gehören dürfen oder nicht. Dazu wäre eine Privilegierung nötig, die, wenn sie legitim sein soll, allererst durch eine Verfassung geschaffen werden könnte, ihr aber nicht vorausliegen kann.
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Weil die Verfassung ein Inbegriff von Rechtsnormen ist, muß jederzeit klar sein, für und gegen wen welche Rechte und Pflichten durch die Regelungen der Verfassung geschaffen werden. Bloße Rhetorik ohne rechtliche Verbindlichkeit - "Verfassungslyrik" - ist zu vermeiden.
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Weil die Legitimation der Verfassung nur durch das Volk vermittelt werden kann und das Volk ein lebendes Kontinuum und kein nur historisches, der Vergangenheit angehörendes Subjekt ist, muß sichergestellt sein, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes auch nach dem erstmaligen Inkraftsetzen der Verfassung dauerhaft erhalten bleibt.
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Weil die verfassunggebende Gewalt unveräußerlich und ausschließlich beim Volk liegt, muß sichergestellt werden, daß singuläre Gruppen und Individuen nicht die Macht erhalten, die Verfassungsgebung zu steuern. Zwar läßt sich rein tatsächlich die Machtverteilung nicht absolut egalisieren. Vielmehr generiert jede Gruppendynamik unvermeidlich ein Machtgefälle. Es muß aber sichergestellt werden, daß Personen und Institutionen, denen aufgrund der Verfassung politische Macht verliehen worden ist, dadurch nicht auch Macht über die Verfassungsgebung erlangen. Denn dies käme einer autokratischen Selbstlegitimation gleich.
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Für das Land Hessen gilt, daß es sich nicht um einen souveränen Staat handeln soll, sondern um ein Bundesland, das in die deutsche Republik und in die Europäische Union föderal integriert ist. Die damit verbundenen rechtlichen Implikationen müssen in der Verfassung ihren Ausdruck finden.
© by Arbeitsgruppe "Schöne Aussicht" 1998