A. Die Aufgabe

Am 1. Dezember 1996 wurde die Hessische Verfassung, neben der bayerischen die älteste deutsche Landesverfassung, 50 Jahre alt. Das ist Anlaß zum Nachdenken darüber, ob die Verfassung noch zeitgemäß und inwieweit ggf. eine Reform zur Anpassung an die heutigen Gegebenheiten angezeigt ist.

1. Die heutigen Zeitumstände unterscheiden sich von denen zum Zeitpunkt der Schaffung der Verfassung wesentlich dadurch, daß das Land Hessen inzwischen integraler Bestandteil nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch des integrierten Europa ist. Das hatte zur Folge, daß die politische und rechtliche Gestaltungsmacht in einer damals nicht voraussehbaren Weise beim Bund und zunehmend auch bei den europäischen Institutionen konzentriert worden ist.

Für das Landesverfassungsrecht hatte diese doppelte Integration und der damit verbundene Konzentrationsprozeß eine Marginalisierung zur Folge, die die Idee des Föderalismus faktisch konterkariert. Überlegungen zu einer Reform der Hessischen Verfassung müssen deshalb bei der Frage ansetzen, in welcher Weise die Relevanz der Landesverfassung trotz der bestehenden Bundes- und Europavorbehalte gesichert werden kann. Nur wenn es auf diese Frage eine befriedigende Antwort gibt, lohnt es sich überhaupt, über eine Fortschreibung der Hessischen Verfassung als Vollverfassung nachzudenken. Andernfalls ist Landesverfassungsrecht ohnehin weitgehend obsolet und lohnt keiner weiteren Beschäftigung mehr.

2. Die Arbeitsgruppe ist zu der Überzeugung gelangt, daß es möglich ist, trotz der Überlagerung durch Bundes- und Europarecht eine wirkungsvolle Vollverfassung für das Land zu schaffen, die über ein bloßes Organisationsstatut hinausgeht und sich nicht nur in rechtlich bedeutungsloser Rhetorik erschöpft.

Beläßt die vorgegebene Situation der Einbindung des Landes Hessen in den Bund und Europa somit noch Spielräume der Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit, so erscheint es uns auch dringend geboten, diese zu nutzen. Denn anders würde eine große, vielleicht die einzige Chance vertan, Bürgersinn, politisches Engagement und Verfassungspatriotismus in der Bevölkerung zu erhalten oder wieder herzustellen. Die Dominanz der großen Organisationen hat auch zu einer Staatsferne geführt, auf die der Bürger immer mehr mit Verdruß und Gleichgültigkeit reagiert. Die sinkenden Wahlbeteiligungen belegen das eindrucksvoll. Mangelndes Engagement der Bürger führt aber notwendigerweise zu einer unkontrollierten Elitenherrschaft, unter der sich wohlorganisierte Interessen von Minderheiten zulasten der Mehrheit der Bevölkerung illegitimen Einfluß sichern. Freiheit und Selbstbestimmung bleiben dabei auf der Strecke und auch der allgemeine Wohlstand kann sehr schnell zum Einsatz in einem Glücksspiel werden, an dem die Bürger nicht beteiligt sind.

Nur in der überschaubaren Region werden sich auf Dauer Bürgersinn und politisches Engagement entwickeln können. Die Preisgabe der kleinen Gemeinschaften zugunsten politischer Großorganisationen im Interesse größerer Effizienz wird dagegen zu einem Unwiederbringlichen Verlust an politischer Kultur führen und sich alsbald als kontraproduktiv erweisen. Die Diskussion um eine Verfassungsreform ist in diesem Sinne auch eine Diskussion um die Stärkung des föderalistischen Elements in der politischen Ordnung, in der wir leben wollen.

3. Im Unterschied zu damals hat auch die Verfassungsrechtslehre seit dem Inkrafttreten der Hessischen Verfassung von 1946 große Fortschritte gemacht und durch eine differenzierte Begrifflichkeit Kategorien geschaffen, die eine vergleichsweise klarere und eindeutigere Fassung insbesondere des Grundrechtsteils ermöglichen. Eine Verfassungsreform sollte sich dieses Instrumentarium zu Nutze machen, um die bereits im Jahre 1946 grundgelegte Tradition der Hessischen Verfassung fortzuschreiben, die sich durch das Bemühen um eine volkstümliche und allgemeinverständliche Sprache auszeichnet. Neue insbesondere wissenschaftlich-technische Entwicklungen haben zudem zu völlig neuen Gefährdungen der individuellen Freiheit geführt und werfen deshalb die Frage nach einer Fortschreibung des Menschen- und Grundrechtskataloges auf.

4. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Bundesrepublik, die im Jahre 1946 nicht einmal im Ansatz voraussehbar war, zwingt auch zu der Fragestellung, ob die Antworten, die die Hessische Verfassung auf die soziale Frage und die Frage der Wirtschaftsverfassung gegeben hat, noch realitätsgerecht sind oder ob hier neue Antworten gegeben werden müssen. Neben die Thematik des Sozialstaates ist zudem die des Umweltstaates getreten. Allgemeiner gesprochen stellt sich insoweit die Frage danach, ob und wie das Landesverfassungsrecht auf den Wandel von einer Industriegesellschaft zur Risikogesellschaft reagieren kann und soll.

5. Die Entwicklung des Verfassungslebens seit der Schaffung der Verfassung zeichnet sich schließlich auch durch zwei sehr problematische Entwicklungen aus, nämlich zum einen durch die Vereinnahmung des Staates durch die politischen Parteien, die in der Tendenz zunehmend die Mechanismen der Gewaltenteilung untergraben, und durch eine hohe Staatsverschuldung, die in der Tendenz zur politisch-gestalterischen Handlungsunfähigkeit des Staates und zur Verarmung künftiger Generationen führt. Insoweit stellt sich die Frage, ob und wie dieser Entwicklung durch Landesverfassungsrecht entgegengewirkt werden kann.

Die Arbeitsgruppe hat sich seit dem 13. Mai 1996 regelmäßig in dem Restaurant "Schöne Aussicht" in Frankfurt am Main - Bergen getroffen und den folgenden Diskussionsentwurf einer neuen Hessischen Verfassung erarbeitet. Entgegen der political correctness konnten wir uns nicht dazu entschließen, Amtsbezeichnungen in männlicher und weiblicher Form zu verwenden, weil dies die Lesbarkeit des Textes unnötig erschwert und inhaltlich keinen eigenen Sinngehalt hat. Wir bitten um Nachsicht.

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© by Arbeitsgruppe "Schöne Aussicht" 1998