D. Der Entwurf

Erster Hauptteil: Das Land Hessen

  Art. 1 [Gegenstand und Wirksamkeit der Verfassung] vgl. Art. 64, 111, 153 Abs. 2

     (1) Das Land Hessen ist ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union.

     (2) Das Land hat bei seiner Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes darauf hinzuwirken, daß die Wirksamkeit dieser Verfassung gewahrt bleibt oder wiederhergestellt wird. Insbesondere darf das Land im Bundesrat keiner Rechtsnorm zustimmen, die mit der Hessischen Verfassung unvereinbar ist.

     (3) Absatz 2 gilt bei der Mitwirkung an der Rechtsetzung der Europäischen Union entsprechend.

     (4) Europarecht und Bundesrecht geht allem Landesrecht vor. Die Landesbehörden und Landesgerichte sind verpflichtet, die Landesgesetze im Geiste der Verfassung auszulegen und das Bundes- und Europarecht im Geiste der Verfassung anzuwenden, soweit Anwendungsspielräume bestehen.
 

Begründung:
Zu Absatz 1:
Die vorgeschlagene Regelung verortet das Land Hessen im föderalen System der Bundesrepublik und der Europäischen Union und betont zugleich die Eigenstaatlichkeit des Landes. Die Vorschrift entspricht dem heutigen Art. 64 HV. Allerdings wird das Land jetzt auch als Glied Europas verstanden. Der Begriff "deutsche Republik" in Art. 64 HV wird ersetzt durch "Bundesrepublik Deutschland".

Zu Absatz 2 und 3:
Die Eigenstaatlichkeit, d.h. die staatliche Selbstbestimmung des hessischen Volkes, wird entscheidend durch die Verfassung vermittelt. Deshalb muß sichergestellt werden, daß das hessische Volk durch die Integration in die Bundesrepublik und in Europa seine verfassunggebende Gewalt möglichst nicht oder wenigstens so wenig wie möglich einbüßt.

Der Status des hessichen Landes(verfassungs)rechts ist wesentlich durch den Vorrang des Bundesrechts (Art. 31 GG) und des Europarechts (Art. 189 Abs. 2 EG-Vertrag) gekennzeichnet. Über diese Vorrangsregeln wird das Recht der Länder zunehmend überlagert, so daß auch die Landesverfassung bisher zunehmend an Bedeutung verloren hat.

Eine Revitalisierung der Landesverfassung trotz der genannten Vorrangsregeln ist dadurch möglich, daß die Landesorgane darauf verpflichtet werden, bei der Mitwirkung an der Gesetzgebung des Bundes und der Union sich so zu verhalten, daß die Wirksamkeit der Landesverfassung möglichst gewahrt bleibt. Die vorgeschlagene Regelung programmiert insbesondere das Verhalten der Landesregierung in der Bundes- und Unionspolitik. Mit dieser Funktion bleiben die Regelungen der Landesverfassung auch dann noch wirksam, wenn sie durch Bundes- oder Unionsrecht überlagert werden.

Die Bindungen, die Absatz 2 und 3 bewirken, konkretisieren den schon heute in Art. 111 HV enthaltenen Gedanken, daß die Landesregierung die hessische Verfassung zu verteidigen hat. Die Bedeutung der Regelung kann man sich an folgenden Beispielen klar machen:

Beispiel 1: Art. 7 HV gewährleistet Fremden Schutz vor Auslieferung und Ausweisung, wenn sie unter Verletzung der in der HV niedergelegten Grundsätzen im Ausland verfolgt werden und nach Hessen geflohen sind. Die Norm kennt keine Sichere-Drittstaaten-Klausel. Der Vorschlag hätte dazu geführt, daß die Landesregierung im Bundesrat dem Asylkompromiß 1993 nicht hätte zustimmen dürfen.

Beispiel 2: Die Landesregierung müßte sich im Bundesrat dafür einsetzen, dem Art. 153 Abs. 1 HV Geltung zu verschaffen, wonach die Verfassung des Bundes von einer Nationalversammlung zu beschließen ist, die vom ganzen deutschen Volk zu wählen ist. Konkret: Hessen dürfte keiner GG-Änderung nach Art 79 Abs. 2 GG mehr zustimmen, bevor es nicht eine Bundesverfassung gibt, die sich das deutsche Volk selbst gegeben hat.

Die Verletzung des Absatz 2 und 3 muß auch sanktioniert werden können. Dem dient der Vorschlag zu Artikel 81 (siehe dort).

Absatz 4:
Absatz 4 Satz 1 stellt klar, daß der Vorrang des Bundes- und Unionsrechts nicht in Frage gestellt wird. Im Gegensatz zum bisherigen Art. 153 Abs. 2 HV und zu Art. 31 GG wird jedoch nicht die Metapher vom "Brechen" verwendet ("Bundesrecht bricht Landesrecht"). Es ist historisch gut begründbar, daß die Wirkung des "Brechens" darin besteht, das dem Bundesrecht entgegenstehende Landesrecht ungültig zu machen. Diese Wirkung bleibt auch dann bestehen, wenn das Bundesrecht, welches das Landesrecht gebrochen hat, nicht mehr gültig ist. Die vorgeschlagene Vorrangklausel sorgt nun dafür, daß es unter keinen denkbaren Umständen zu einem Widerspruch zwischen Landesrecht und Bundesrecht kommen kann, denn die vom Inhalt her dem Bundesrecht widersprechende Landesnorm ist von Landesverfassungs wegen solange suspendiert wie das entgegenstehende Bundesrecht existiert. Der Fall des Art. 31 GG ("Bundesrecht bricht Landesrecht") kann deshalb nicht mehr eintreten, weil es immer an einem echten Widerspruch zwischen Landesrecht und Bundesrecht fehlt. Damit wird die Geltungskraft des Landesrechts gestärkt, ohne den Vorrang des Bundes- und Europarechts anzutasten.

Soweit Satz 2 die Behörden und Gerichte des Landes zu einer verfassungskonformen Auslegung des Landesrechts verpflichtet, entspricht dies einer Selbstverständlichkeit, die aber deshalb festgeschrieben werden sollte, weil die Hessische Verfassung bei der Anwendung des einfachen Rechts in der Vergangenheit leider selten beachtet wurde.

Satz 2 verpflichtet die Behörden und Gerichte des Landes darüberhinaus zu einer (landes-) verfassungskonformen Anwendung des Bundes- und Europarechts. Dieser Regelung bedarf es, weil die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs eine derartige Verpflichtung, bzw. Berechtigung nicht anerkannt hat.

Eine Berücksichtigung der hessischen Verfassung bei der Anwendung des Bundes- und Unionsrechts kommt insbesondere in folgenden Fällen in Betracht:

- wenn das Bundes- oder Europarecht der anwendenden Behörde einen Ermessensspielraum einräumt, für dessen Ausfüllung die HV Kriterien bereitstellt;

- wenn das Bundes- oder Europarecht der anwendenden Behörde einen Beurteilungsspielraum einräumt, also einen Freiraum zu eigenen Wertungen und die HV insoweit Wertungsmaßstäbe bereitstellt;

- wenn eine Norm des Bundes- oder Europarechts in juristisch vertretbarer Weise unterschiedlich interpretiert werden kann und eine der Interpretationsalternativen den Wertungen der HV eher entspricht als eine andere. Eine (landes-)verfassungskonforme Auslegung des Bundes- und Europarechts findet seine Rechtfertigung in der bundesverfassungsrechtlichen Zuständigkeit der Landesbehörden für die Ausführung des Bundes- und Europarechts. Soweit Interpretationsspielräume bestehen, ist die rechtsanwendende Behörde stets für die gewählte Interpretationsalternative verantwortlich. Das gilt selbst dann, wenn oberste Bundesgerichte die Interpretationsfrage bereits vorentschieden haben. Denn Entscheidungen oberster Bundesgerichte gelten grundsätzlich immer nur inter partes, also nur für die Parteien des jeweiligen Rechtsstreits. Allerdings gebietet das Rechtsstaatsprinzip und der daraus abzuleitende Grundsatz der Rechtssicherheit im Hinblick auf die Aufgabe oberster Bundesgerichte, die Rechtseinheit zu wahren, daß deren Interpretationen in der Regel zu übernehmen sind, wenn nicht schwerwiegende Gründe für eine abweichende Entscheidung sprechen. Da auch die HV dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtet ist, können Landesbehörden bei der Anwendung von Bundesrecht also auch dann einer höchstrichterlichen Interpretation folgen, wenn diese im Widerspruch zur HV steht. Die Bindung an die HV besteht deshalb nur dann und insoweit als bundesgerichtliche Vorgaben nicht bestehen.

Kompatibilität:
Die Regelung ist mit höherrangigem Recht vereinbar. Insbesondere die Vorrangregeln des Grundgesetzes und des Unionsvertrages werden nicht in Frage gestellt. Mit diesen Vorrangregeln ist es vereinbar, wenn das Land politisch für eine möglichst weitgehende Geltung der hessischen Verfassung eintritt. Es begegnet keinen Bedenken, die hessischen Verfassungsorgane auf eine bestimmte Politik zu verpflichten. Vielmehr legt die Verfassung diesen Organen hier eine Staatsaufgabe oder eine Staatszielbestimmung auf, was in Verfassungslehre und Rechtsprechung allgemein anerkannt ist.

Auch die in Absatz 4 vorgesehende Bindung an die HV bei der Anwendung von höherrangigem Recht ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Denn eine an der HV orientierte Rechtsanwendung kann das Bundes- oder Europarecht nicht verletzen, sofern dieses dem Rechtsanwender Anwendungs- oder Interpretationsspielräume einräumt oder beläßt. Die in dieser Frage bisher gegenteilige Rechtsprechung des StGH (vgl. StAnz 1989, 1661 [1663]; NVwZ 1994, 64) entbehrt einer stichhaltigen Begründung.

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