§ 1 Grundlagen

I. Legitimation und Grundbegriffe des Strafrechts

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Kapitel:
§ 1   Grundlagen
I.   Legitimation und Grundbegriffe des Strafrechts
1.   Notwendigkeit einer Legitimation der Strafe
2.   Zweck der Strafe
a)   Vergeltung und Schuldausgleich?
b)   Verschiedene Rechtsgüterschutzzwecke der Verhaltensnorm und der Sanktionsnorm
3.   Strafrecht als sekundäre Normenordnung - Vorfrage der Verhaltensnormbegründung
4.   Strafe als personaler Tadel und Schuldprinzip
5.   Zusätzliche formale Voraussetzungen der Bestrafung
6.   Exkurs: Abweichende Zielsetzung der Maßregeln
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§ 1 Grundlagen

I. Legitimation und Grundbegriffe des Strafrechts

1. Notwendigkeit einer Legitimation der Strafe

Das Strafrecht ist Teil des Öffentlichen Rechts. Denn mit dem Strafrecht tritt der Staat dem einzelnen kraft seiner staatlichen Hoheitsgewalt entgegen. Er greift etwa durch die Verhängung einer Geld- oder Freiheitsstrafe massiv in grundrechtlich verbürgte Rechtspositionen ein. Deshalb gelten für das Strafrecht dieselben Legitimationsbedingungen, die bei staatlichen Rechtseingriffen ganz allgemein zu beachten sind.[1]

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Strafrechtliche Reglementierung ist infolgedessen von vornherein nur in dem Rahmen zulässig, der durch die staatlichen Aufgaben abgesteckt wird. Zu diesen Aufgaben gehört zwar der Schutz der Daseins- und Entfaltungsbedingungen des einzelnen, der Opfer einer Straftat werden kann. Schuldausgleich um seiner selbst willen nach bereits begangener Tat ist dagegen nicht die Aufgabe der staatlichen Strafe. Der Einsatz von Strafe muß vielmehr zweckrational[2] legitimiert sein durch die präventive Aufgabe des Staates, Rechtsgüter zu schützen.[3]

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2. Zweck der Strafe

a) Vergeltung und Schuldausgleich?

Eine absolute Straftheorie sieht das freilich anders: Nach einer absoluten Straftheorie liegen Rechtsgrund und Sinn der Strafe allein in der Vergeltung. Durch die Übelszufügung (Strafe) soll allein das vom Täter schuldhaft begangene Unrecht gerecht ausgeglichen werden. Die Strafe ist in solcher Sicht nur repressiver Unrechts- und Schuldausgleich und frei - also losgelöst (= absolut) - von jeder Zweckerwägung im Sinne einer zukunftsorientierten Prävention.[4] Der Grund der Strafe wird lediglich in der Vergangenheit gesucht ("punitur quia peccatum est"). Nach einer absoluten Straftheorie ist Strafe auch dann zu verhängen, wenn sie keinerlei sozialen Nutzen mehr stiftet.[5]

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Demgegenüber gilt es festzuhalten: Angesichts der verfassungsrechtlichen Begrenzungen bei hoheitlichen Rechtseingriffen ist es gegenwärtig nicht mehr möglich, eine vollkommen absolute (zweckfreie) Straftheorie zu vertreten.[6] Um nicht mißverstanden zu werden: Das soeben Gesagte schließt es nicht aus, dem Gedanken der gerechten Vergeltung oder genauer noch: dem Gedanken der angemessenen Reaktion auf den begangenen Normbruch in einem zweck- und wertrational fundierten Strafrechtssystem den ihm gebührenden und durchaus berechtigten Stellenwert zuzuweisen.[7]

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b) Verschiedene Rechtsgüterschutzzwecke der Verhaltensnorm und der Sanktionsnorm

Nach dem bisher Gesagten muß der Einsatz von Strafe zweckrational legitimiert sein durch die präventive Aufgabe des Staates, Rechtsgüter zu schützen.[8] Dabei wird freilich oft nicht klar genug die spezifische Schutzaufgabe der Strafe erfaßt.

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Der Schutz von Rechtsgütern wie Leben, Leib, Freiheit und Eigentum liegt zwar allgemein im Aufgabenbereich des Staates, er kann aber durch das Instrument der Strafe nur in einem vermittelten Sinne erzielt werden: Wenn Strafe verhängt wird, ist "das Kind bereits in den Brunnen gefallen": Die Bestrafung des Mörders macht das Opfer nicht wieder lebendig. Durch die Bestrafung des Täters einer Sachbeschädigung wird die zerstörte Vase nicht wieder heil. Für das konkret betroffene Rechtsgut (in den Beispielen: Leben und Eigentum des Opfers) kommt die Strafe immer zu spät. Sollen diese Rechtsgüter geschützt werden, so müssen sie noch unverletzt bestehen. Rechtsgüterschutz kann also immer nur für die Zukunft gewährt werden. Der Schutz von Rechtsgütern wie Leben, Eigentum und Freiheit läßt sich nur durch das Aufstellen von Ge- und Verboten erreichen. Um eine solche Verhaltensnorm handelt es sich etwa bei dem - freilich konkretisierungsbedürftigen - Verbot: "Du sollst nicht töten".

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Wenn Strafe ihrerseits nach begangener Straftat ein Rechtsgut schützen soll, so muß noch ein rettungsfähiges Gut vorhanden sein - ein Gut, das gerade durch das Mittel der Strafe vor drohendem Schaden bewahrt werden kann. Dann muß der Verstoß gegen die Verhaltensnorm, der die Straftat begründet, über die bereits eingetretene Verletzung des Rechtsgutes der Verhaltensnorm hinaus eine Rechtsgutsbedrohung darstellen, gegen die noch etwas unternommen werden kann. Dieses Rechtsgut, das nach der Straftatbegehung noch geschützt werden kann, liegt in der durch die Straftat gefährdeten Geltungskraft der übertretenen Verhaltensnorm.

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Der Straftäter stellt diese Geltungskraft durch seine Tat in Frage. Die Straftat beinhaltet einen geistigen - überindividuell bedeutsamen - Angriff auf die Normgeltung. Denn die Begehung der Straftat bedeutet, daß anstelle der Sollensanforderungen des Rechts die davon abweichenden Maximen des Täters gelten sollen.[9] Der ideelle Angriff des Normbrüchigen auf die Norm kann deshalb einen entsprechenden Normgeltungsschaden zur Folge haben - mit all den für ein gedeihliches Zusammenleben nachteiligen Konsequenzen, die ein Normenverfall nach sich zu ziehen vermag. Der Widerspruch des Täters zur übertretenen Verhaltensnorm als Negation des legitimierten Norminhalts darf nicht unwidersprochen bleiben, wenn die Normgeltung in der Zukunft jedenfalls langfristig keinen Schaden nehmen soll.[10]

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Zu unterscheiden sind damit zwei verschiedene Arten von Rechtsgütern, die jeweils von einem ganz bestimmten Normtypus geschützt werden: Die Verhaltensnorm ge- oder verbietet ein menschliches Verhalten ("Du sollst nicht töten") und schützt damit Rechtsgüter wie etwa das Leben. Rechtsgut der Sanktionsnorm, also einer Strafvorschrift ("Wer einen Menschen tötet ..., wird ... bestraft", § 212 I), ist hingegen die Geltungskraft der Verhaltensnorm. Verbreitet wird diese Differenzierung nicht vorgenommen und unzutreffend verkürzt von Leben usw. als dem Schutzgut der Sanktionsnormen gesprochen.[11] Ist im folgenden vom Rechtsgut ohne weiteren Zusatz die Rede, so ist damit jeweils das Rechtsgut der Verhaltensnorm gemeint.

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Tragende Funktion der Strafe ist demnach die Wiederherstellung des gestörten Rechtsfriedens durch mißbilligende Reaktion auf einen begangenen Normbruch (Straftat). Im Bruch einer rechtlich legitimierten Verhaltensnorm seitens einer verantwortlichen Person ist eine Infragestellung der Normgeltung zu erblicken. Auf diese Infragestellung muß angemessen mißbilligend reagiert werden, wenn die Normgeltung langfristig keinen Schaden nehmen soll: Strafe ist zu verstehen als Widerspruch gegenüber dem Normbruch zur Beseitigung der Gefahr eines Normgeltungsschadens.[12] In diesem zweckrationalen Strafrechtskonzept hat auch der für eine absolute Straftheorie charakteristische Gedanke gerechter Vergeltung seinen ihm gebührenden Stellenwert.[13]

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Das soeben Gesagte bedeutet freilich zugleich folgendes: Nur wenn eine Verhaltensnormübertretung begründbar ist, gibt es ein durch das spezielle Mittel der Bestrafung schützbares Rechtsgut. Voraussetzung für eine Verhaltensnormübertretung aber ist allemal, daß eine Verhaltensnorm legitimiert werden kann: Nur eine legitimierbare Verhaltensnorm kann übertreten werden. Soll insgesamt ein sinnvolles Rechtsgüterschutzkonzept zustande kommen, muß deshalb zunächst ein System von rechtlich legitimierbaren Verhaltensnormen geschaffen werden. Dem Strafrecht vorgelagerte Ver- und Gebote müssen konzipiert werden, indem bestimmte Verhaltensweisen, die rechtlich anzuerkennende Interessen ("Rechtsgüter") zu beeinträchtigen drohen, rechtliche Mißbilligung erfahren. Kurzum: Ein Verhaltensnormensystem als dem Strafrecht vorgelagerte primäre Normenordnung wird benötigt.

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3. Strafrecht als sekundäre Normenordnung - Vorfrage der Verhaltensnormbegründung

Erst wenn der Verstoß gegen eine Verhaltensnorm vorliegt, taucht überhaupt die Frage der Sanktionierung eines solchen Verstoßes auf. Wenn alle die primäre Normenordnung des rechtlich richtigen Verhaltens befolgten, bedürfte es keiner sekundären Sanktionsordnung des Strafrechts. Das Strafrecht besitzt also einen sekundären oder genauer noch: einen akzessorischen Charakter. Die eigentliche Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts kann nur darin bestehen, daß es mit Sanktionierung auf Verhaltensnormverstöße reagiert, um so der sonst drohenden Gefahr eines (Verhaltens-)Normgeltungsschadens entgegenzuwirken. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der eigentlichen Funktion der Strafgesetze: Sie sollen nicht regeln, was verboten oder was geboten ist. Das regeln bereits die von den Strafgesetzen vorausgesetzten Verhaltensnormen - also die Ver- und Gebote der primären Normenordnung. Die Strafgesetze als solche regeln nur, auf welche Verhaltensnormverstöße unter welchen weiteren Voraussetzungen strafrechtlich reagiert werden soll.[14]

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Bevor über die Strafbarkeitsfrage nachgedacht wird, bedarf das bei der Begründung von Ver- und Geboten ständig auftauchende Interessenkollisionsproblem unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben der angemessenen Auflösung. Schlagwortartig formuliert: Insoweit konkurriert die Handlungsfreiheit des einen Bürgers mit dem Schutz der Güter des anderen Bürgers. Die im Wege der Güter- und Interessenabwägung zu bestimmende Verhaltensordnung erschöpft sich nicht in abstrakten Normen wie etwa: "Du sollst nicht töten". Vielmehr müssen die konkreten Verhaltensanforderungen herausgearbeitet werden, die z. B. im Interesse des Lebensschutzes anderer einzuhalten sind. Denn auch angeblich absolut geschützte Güter wie das Leben genießen in Wahrheit keinen Schutz um jeden Preis, sondern müssen sich - im Interesse eines gedeihlichen Zusammenlebens - erhebliche Abstriche von einem lückenlosen Rundumschutz gefallen lassen. Ihre kausale Verletzung ist nur bei Mißachtung der maßgeblichen Verhaltensregeln zu beanstanden.

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Man denke nur an den gesamten Bereich des Straßen- und Luftverkehrs, der zahlreiche tolerierte Lebensrisiken beinhaltet. Wer die Verkehrsregeln einhält und auf dem Weg über ein solches toleriertes Risiko den Tod oder die Körperverletzung eines anderen Menschen verursacht, verstößt bereits nicht gegen ein rechtverstandenes Tötungs- oder Körperverletzungsverbot.[15] Ein solches kann sich nicht in einem nebulösen "Verursachungsverbot" erschöpfen, sondern muß im Klartext die im Rechtsgüterschutzinteresse zu beachtenden Verhaltensanforderungen benennen.[16]

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Nach unserem heutigen Staatsverständnis ist der Schutz einer zu eigenverantwortlichem Handeln fähigen Person vor sich selbst keine Aufgabe des Staates. Deshalb kann nach dem bisher Gesagten ein (gar strafrechtliches) Verbot von Sportarten mit der Gefahr der Selbstverletzung oder das strafrechtliche Verbot eines ungesunden Lebenswandels keinen Bestand haben. Klärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang lediglich, unter welchen Voraussetzungen genau von solcher Freiverantwortlichkeit ausgegangen werden kann. Daß der insoweit anzulegende Maßstab umstritten ist[17], ändert nichts an der grundsätzlichen Unzulässigkeit, den einzelnen Verantwortlichen bevormundend vor sich selbst zu schützen. Denn das ist keine legitime Staatsaufgabe.[18]

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Anders verhält es sich demgegenüber bei bedrohten Rechtsgütern anderer: So läßt sich z. B. der Schutz von Leib, Leben, Eigentum und Freiheit anderer grundsätzlich legitimieren. Denn der Schutz solcher Daseins- und Entfaltungsbedingungen gehört jedenfalls in den Aufgabenbereich des Staates.

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Freilich können solche Rechtsgüterschutzinteressen nicht immer und unter allen Umständen (absolut) gewahrt werden.[19] Das geht schon deshalb nicht, weil regelmäßig eine Güter- und Interessenkollision festzustellen ist, die notwendig zum Nachteil des einen oder des anderen Rechtsgüterschutzinteresses entschieden werden muß. Mit anderen Worten: Für die Verhaltensnormbegründung bedarf es einer Güter- und Interessenabwägung. Was man der einen Seite gibt, nimmt man der anderen! Wenn sich das Kollisionsproblem nicht vermeiden läßt, muß es wenigstens angemessen aufgelöst werden. Dabei streitet gegen eine (gar strafrechtliche) Reglementierung immer mindestens die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG (u. U. - etwa im Notstandsfall - streiten auch weitere Gegeninteressen). Deren Zurücksetzung ist nach dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz[20] als der allgemeinen Leitregel staatlichen Eingriffshandelns nur legitimierbar, wenn dies - und damit die zu legitimierende Verhaltensnorm - als geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zu dem angestrebten Zweck des Rechtsgüterschutzes anzusehen ist. Die zu legitimierende Verhaltensnorm muß also im einzelnen folgende Voraussetzungen erfüllen:

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1. Sie muß überhaupt ein geeignetes Mittel zur Erreichung des angestrebten Rechtsgüterschutzzwecks sein. Demzufolge sind zur Zweckerreichung untaugliche Verhaltensnormen[21] unter keinen Umständen legitimierbar. So erklärt sich das inzwischen durchaus geläufige Erfordernis "planbarer" Vermeidung schadensträchtiger Verläufe.[ 22]

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2. Die Verhaltensnorm muß das erforderliche Mittel zur Erreichung des angestrebten Rechtsgüterschutzzwecks sein. Das bedeutet, daß sie unter mehreren gleich geeigneten Mitteln das releativ mildeste sein muß - also das Mittel, das den Reglementierten am wenigsten belastet.[23]

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3. Schließlich muß die Verhaltensnorm das angemessene Mittel zur Erreichung des angestrebten Rechtsgüterschutzzwecks sein. Für diese Angemessenheitsfeststellung bedarf es einer rechtlichen Bewertung der im einzelnen kollidierenden Güter und Interessen.[24] Als staatlicher Eingriff in den Ablauf der Welt, wie er ohne diesen stattfände, kann die Angemessenheit einer Verhaltensnorm als Mittel des Güterschutzes nur angenommen werden, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Güter und Interessen per saldo eindeutig ein "Gewinn" übrig bleibt. Die Entscheidung für die Geltung der infrage stehenden Verhaltensnorm muß also als Entscheidung für das eindeutig überwiegende Interesse, für den eindeutig überwiegenden Wert ausgewiesen werden können. Nur so kann die Verhaltensnorm auch mit der für ihre faktische Wirksamkeit dringend notwendigen Akzeptanz durch den von ihr Betroffenen rechnen.[25]

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4. Strafe als personaler Tadel und Schuldprinzip

Wegen des Vorwurfscharakters ist Strafe als spezielles Mittel nur zulässig, wenn der Vorwurf, der im Sinne eines sozialethischen Tadels gegenüber der Person erhoben wird, berechtigt ist. Würde ein solcher Vorwurf gegenüber einer Person erhoben, die kein entsprechendes personales Unrecht verwirklicht hat, wäre das ein klarer Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Schuldprinzip: nulla poena sine culpa[26]. An der Berechtigung eines solchen Vorwurfs fehlt es z. B. bei der Verurteilung eines Schuldunfähigen[27]: Wenn ein Fünfjähriger alle Zukunftspläne seines Vaters, der gerade den Elektroherd anschließen will, zunichte macht, indem er beim Spielen die Sicherung wieder einschaltet, trifft ihn kein Vorwurf (Schuldunfähigkeit des Kindes; § 19). Ein entsprechender Vorwurf ist auch beim massiv Verdächtigen unberechtigt, sofern relevante Zweifel an seiner (schuldhaften) Tatbegehung bestehen: im Zweifel für den Angeklagten (in dubio pro reo).

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5. Zusätzliche formale Voraussetzungen der Bestrafung

Außer der soeben skizzierten sachlichen Begrenzung der staatlichen Strafgewalt ist in formaler Hinsicht vor allem die besonders intensive Gesetzesbindung zu beachten. Art. 103 Abs. 2 GG normiert[28]: "Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde." Es gilt der Satz: nullum crimen, nulla poena sine lege[29] - also ein strenger Gesetzlichkeitsgrundsatz.[30] Im einzelnen beinhaltet das nicht nur ein Rückwirkungsverbot für Strafgesetze (nullum crimen sine lege praevia[31]), sondern auch ein Verbot der entsprechenden (analogen) Anwendung belastender Strafgesetze und ein Verbot von Gewohnheitsstrafrecht (nullum crimen sine lege scripta[32]); außerdem sind zu unbestimmte Strafgesetze verfassungswidrig (nullum crimen sine lege certa[33]). In der Konsequenz des nullum crimen-Satzes liegt der fragmentarische Charakter des Strafrechts - d. h.: Strafbarkeitslücken sind bewußt in Kauf genommen.[34] Auch darf niemand wegen derselben Tat mehrfach bestraft werden (Art. 103 Abs. 3 GG: ne bis in idem[35]).

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Resümieren wir kurz: Ausgangspunkt einer material orientierten Lehre von der Straftat ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer Legitimation der Strafe: Der Einsatz von Strafe muß zweckrational legitimiert sein durch die Rechtsgüterschutzaufgabe des Strafrechts.[36] Eine absolute, vollkommen zweckfreie Straftheorie ist nach gegenwärtigem Verfassungrecht nicht mehr haltbar.[37] Bei der Erfüllung der Rechtsgüterschutzaufgabe sind zwei verschiedene Arten von Rechtsgütern zu unterscheiden, die jeweils von einem ganz bestimmten Normtypus geschützt werden: Die Verhaltensnormen ge- oder verbieten ein menschliches Verhalten und schützen dadurch unmittelbar Rechtsgüter wie etwa das Leben. Rechtsgut der Sanktionsnormen (also der Strafvorschriften) ist hingegen die Geltungskraft der Verhaltensnormen.[38] Der Einsatz von Strafe ist zu verstehen als Widerspruch gegenüber dem Normbruch zur Beseitigung der Gefahr eines Normgeltungsschadens.[39] Die Sanktionsnormen dienen (über den Schutz der Geltungskraft von Verhaltensnormen als spezifischem Rechtsgut der Sanktionsnormen) nur mittelbar dem Schutz jener Rechtsgüter, die unmittelbar durch die Verhaltensnormen geschützt werden (die Bestrafung des Diebes schützt unmittelbar die Geltungskraft des Diebstahlsverbots - dagegen wird das Eigentum unmittelbar durch das Diebstahlsverbot geschützt). Bevor über die Strafbarkeitsfrage nachzudenken ist und das Strafrecht "zum Einsatz kommen" kann, muß die Vorfrage der Begründung von Verhaltensnormen als primärer Normenordnung geklärt werden (sekundärer oder akzessorischer Charakter des Strafrechts).[40] Diese Legitimierbarkeit ist an der allgemeinen Leitregel des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips auszurichten, anhand deren das auftauchende Interessenkollisionsproblem (Handlungsfreiheit des einen Bürgers contra Schutz der Güter der anderen Bürger) angemessen aufzulösen ist.[41] Bei der Frage der Zulässigkeit von Strafe sind vor allem das verfassungsrechtliche Schuldprinzip (nulla poene sine culpa)[42] und der Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG (nullum crimen, nulla poena sine lege) mit seinen vielfältigen Auswirkungen zu beachten.[43]

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6. Exkurs: Abweichende Zielsetzung der Maßregeln

Vom Strafrecht im soeben skizzierten Sinne streng zu unterscheiden ist das auch im StGB geregelte Recht der Maßregeln der Besserung und Sicherung (vgl. §§ 61 ff.). Zwar spricht man auch insoweit von "Strafrecht" i. w. S., doch sollte man diese irreführende Terminologie besser vermeiden. Tatsächlich sind Maßregeln keine Strafen, sondern ausschließlich auf die Zukunft bezogene Gefahrenabwehrmaßnahmen mit Blick auf hinreichend konkret drohende Gefahren für Güter wie Leib, Leben, Eigentum etc. Maßregeln sind damit sachliches Polizeirecht. Sie haben nicht die spezifische Gefährlichkeit einer begangenen Straftat für die allgemeine Normgeltung im Auge.

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Zur Verdeutlichung des wichtigen Unterschieds ein Beispiel: Bei der Strafe geht es um die angemessene Reaktion auf den begangenen Totschlag, damit nicht der fälschliche Eindruck zurückbleibt, das Tötungsverbot brauche nicht ernst genommen zu werden. Die Maßregel der Besserung und Sicherung will etwa verhindern, daß ein unter Verfolgungswahn leidender Geisteskranker, der andere bereits tätlich angegriffen hat, einen anderen Menschen tötet. Die begangene "Anlaßtat" liefert für die Maßregel nicht den Rechtsgrund, sondern hat lediglich neben anderen Faktoren mittelbar-indizielle Bedeutung im Rahmen der erforderlichen umfassenden - auf die individuelle Person bezogenen - Gefährlichkeitsbeurteilung. Funktion einer Maßregel der Besserung und Sicherung ist es ausschließlich, in der Zukunft zu befürchtende Güter- und Interessenbeeinträchtigungen anderer zu verhüten, die gerade seitens des der Maßregel zu Unterwerfenden hinreichend konkret drohen (spezialpräventive[44] Zweckrichtung der Maßregeln). Schlagwortartig formuliert: Es geht um Rechtsgüterschutz durch Zugriff auf die hinreichend konkret gefährliche Person (polizeirechtlich gesprochen: den Störer). Dagegen wird z. B. der Totschläger auch dann für seine begangene Tat zu Recht bestraft, wenn er als Person jetzt völlig ungefährlich sein sollte - eine Maßregel der Besserung und Sicherung also rechtlich unzulässig wäre.

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