Skript zu Grundfragen der Tötungsdelikte

Fall 11 "Dysmenorrhöe" (§§ 222, 218; Beginn des Lebens)

A.   Strafbarkeit nach §§ 222, 13 StGB
  (I.)   Tatbestand
Eintritt des tatbestandlichen Erfolges
    1.   Tötung eines Menschen
      Fraglich erscheint hier jedoch, ob es sich bei dem "Kind" um einen Menschen im Sinne des StGB gehandelt hat.
Man könnte zunächst versucht sein, die Definition des § 1 BGB zu übernehmen, wonach die Rechtsfähigkeit mit Vollendung der Geburt beginnt. Weltanschauliche Überlegungen könnten dagegen zu dem Ergebnis kommen, menschliches Leben beginne sehr viel früher.
§ 218 sanktioniert den Abbruch einer Schwangerschaft mit Freiheitsstrafe bis 3 Jahre. Die Geburt bildet demnach im strafrechtlichen Sinne eine Zäsur zwischen Leibesfruchtsstadium und Menschsein. Eine Leibesfrucht kann dementsprechend nicht im Sinne der §§ 211, 212, 222 getötet werden.
Zur Klärung, könnte außerdem eine systematisch-historische Betrachtung der Tötungsdelikte beitragen. Nach § 217 StGB wurde eine Mutter, welches ihr nichteheliches Kind in oder gleich nach der Geburt tötet, mit Freiheitsstrafe nicht unter 3 Jahren bestraft. § 218 sanktioniert dagegen den Abbruch einer Schwangerschaft. Hieraus kann gefolgert werden, daß eine Tötung nach Beginn der Geburt nicht mehr als Schwangerschaftsabbruch, sondern als Tötung eines Menschen anzusehen ist.2 Der Gesetzgeber hat nun § 217 gestrichen. Maßgebliche Überlegung hierbei war, daß diese Norm in der Praxis kaum Relevanz hatte und auch historisch überholt erschien. Indes ist nicht ersichtlich, daß hierdurch eine Verlagerung des Lebensschutzes bei "Tötungshandlungen" während der Geburt beabsichtigt war.
Eine Geburt durchläuft unterschiedliche Phasen. Die Vorwehen setzen in den letzten Wochen und Tagen der Schwangerschaft ein und reichen bis kurz vor Beginn der Geburt. Die dann einsetzenden Geburtswehen werden in Eröffnungs- und Preßwehen unterteilt. Während der Eröffnungswehen wird der Geburtsweg bis zur vollen Durchgangsfähigkeit eröffnet und gleichzeitig der vorangehende Teil des Kindes bis zum Muttermund gedrängt. Während der Preßwehen wird das Kind dann aus dem Mutterleib befördert.
Der eigentliche Geburtsvorgang beginnt also mit den Eröffnungswehen.3 Der Geburtsvorgang stellt für das Kind ein erhöhte Gefahrenquelle dar und es ist angebracht es hier dem besonderen strafrechtlichen Schutz der Tötungsdelikte - insbesondere § 222 - zu unterstellen.
Das "Kind" ist nach Feststellung des Sachverhaltes nach Eintritt der Eröffnungswehen also als Mensch verstorben.
    2.   Maßgeblicher Zeitpunkt für die Tötungshandlung
      Fraglich erscheint jedoch, ob es ausreicht, daß letztlich ein Mensch zu Tode kommt.
Die §§ 211, 212 verlangen die Tötung eines Menschen. Hiernach kann es also nicht darauf ankommen, ob irgendwann ein Mensch stirbt. Gleiches muß für den vom Wortlaut weiteren §§ 222 gelten. Andernfalls wäre sein Schutzrichtung eine andere.4 Maßgeblicher Zeitpunkt ist also nicht der Todeseintritt, sondern der Zeitpunkt, zu dem sich die Handlung auf den Betroffenen auszuwirken beginnt.5
Der Arzt hat es unterlassen die Schwangere richtig zu behandeln. Hiermit hat er eine Situation geschaffen, die für den Fötus zu einer Sauerstoffunterversorgung geführt hat, welche schließlich den Tod bewirkt hat. Zum Zeitpunkt der "Auswirkung" war folglich noch kein Mensch betroffen. Ein Tötungsdelikt scheidet daher aus.

B.   Strafbarkeit nach §§ 218, 13
  (I.)   TB
    1.   objektiver TB
      Abbrechen der Schwangerschaft setzt einen Eingriff voraus, mit dem während der Schwangerschaft, also vor Beginn der Geburt, auf die Leibesfrucht, sei es auch nur auf eine von mehreren, einwirkt und dadurch deren Absterben herbeigeführt wird.6
Durch das Unterlassen einer Behandlung ist A ursächlich für das Absterben der Leibesfrucht seiner Patientin geworden. Es liegt damit ein tatbestandlicher Schwangerschaftsabbruch vor.
    2.   Vorsatz (-)
      § 218 ist Vorsatzdelikt. Einen fahrlässigen Schwangerschaftsabbruch gibt es nicht. Andernfalls würde sich auch die Frau strafbar machen, die ihr Kind infolge Rauchens oder beim Sport verliert. Eine - wünschenswerte? - Erfassung der Fälle, in denen Ärzte fahrlässige handeln ist nur de lege ferenda möglich!



Fall 27 "Gisela"(§ 216;Tötung auf Verlangen, Fehlgeschlagener Doppelselbstmord)

A)   § 212 (+)
B)   § 216 T kann sich nach §§ 212, 216 StGB wegen Tötung auf Verlangen strafbar gemacht haben.
  I.   Tatbestand
    1.   Objektiver TB
      a)   Tod eines Menschen (+)
      b)   Verlangen des Getöteten (+)
Die Tötung muß auf opfereigenen Wunsch, wenn vielleicht auch auf Anregung des Tötenden geschehen, die bloße Einwilligung genügt nicht.8
      c)   Ausdrücklich (+)
Ausdrücklich ist das Verlangen, wenn es in eindeutiger, nicht mißverständlicher Weise gestellt worden ist.9
      d)   Ernsthaft (+) Nur bei fehlerfreier Willensbildung eines Einsichts- und Urteilsfähigen ist Ernstlichkeit gegeben.10
      e)   Bestimmung (+)
Wie bei der Anstiftung ist dies ausgeschlossen, falls der Täter ohnehin zur Tat entschlossen war oder falls er nicht durch das Verlangen, sondern durch andere Umstände zur Tat veranlaßt wurde.11
      f)   Tötung im Sinne des §§ 212, 216 oder straffreie Beihilfe zum Selbstmord?12
        aa)   subjektive Theorie (-)
Die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme ist allein nach subjektiven Kriterien vorzunehmen.13
         
  • für § 216 ist keine »Sondertheorie« nötig
  • sonst Argumente wie insgesamt gegen subjektive Theorie
          T wollte nicht Täter im Sinne von § 216 sein.
        bb)   allgemeine Tatherrschaftslösung (+)
Für die Unterscheidung kommt es drauf an, wer das zum Tode führende Gesamtgeschehen tatsächlich beherrscht hat. Dabei ist auf den Gesamtplan und die danach zu ermittelnde Funktion der Tatbeiträge abzustellen.14
         
  • Entscheidend ist, wie der Tote über sein Schicksal verfügt hat. Erduldet er den Tod, dann hat der Täter auch Tatherrschaft; hat das Opfer bis zum Schluß die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann es tötet es sich selbst.
  • modifizierte THL überzeugt nicht, weil selbst eine bis zum Tod fortwirkende Einwirkung auf das Opfer kein § 216 wäre; nicht zu verantwortende Rücknahme des Strafrechtsschutzes
  • subjektive Theorie überzeugt nicht: § 216 fordert gerade eine Unterordnung unter fremden Willen
          T hatte Geschehen bis zum Schluß in der Hand (dem Fuß!).
        cc)   modifizierte Tatherrschaftslösung (-)
Die Abgrenzung hängt von der Herrschaft über den todbringenden Augenblick ab. Selbstmord begeht, wer im kritischen Moment, nach dem es kein Zurück mehr gibt, die Entscheidung über sein Leben in eigener Hand hält und die Schwelle selbst überschreitet; § 216 liegt vor, wenn das Opfer den letzten irreversiblen Akt dem anderen anvertraut, sich also über die Schwelle stoßen läßt.15
         
  • Tatherrschaft verengt sich auf den entscheidenden Augenblick
  • allgemeine Tatherrschaftslösung hängt von Zufälligkeiten ab; anderes Ergebnis, wenn T das Gaspedal mit Stein beschwert hätte.
  • Rollentheorie verkennt, daß sowohl bei über Anstiftung hinausgehender aktiver Mitwirkung des Opfers § 216, als auch bei fehlender Mitwirkung Selbstmord vorliegen kann
          Opfer hätte sich bis zum letzten Moment aus dem Auto fallen lassen können.
        dd)   Rollentheorie (-)
Tötung auf Verlangen ist gegeben, wenn sich das Opfer auf die im Gesetz beschriebene Rolle als Quasi-Anstifter beschränkt. Geht es darüber hinaus und wirkt aktiv fördernd an der Tötungshandlung mit (Quasi-Mittäterschaft), bleibt der Teilnehmer straflos.16
         
  • § 216 geht davon aus, daß das Opfer lediglich Anstifter ist; geht das Opfer durch aktive Teilnahme über seine tatbestandlich fixierte Rolle hinaus, entfällt § 216 weil das Opfer nicht mehr nur Anstifter ist
  • für § 216 ist kennzeichnend, daß das Opfer auch Tatherrschaft hat, schließlich kann es dem Täter jederzeit Einhalt gebieten; subjektive und Tatherrschaftslösung können die Abgrenzungsfrage nicht lösen.
          Opfer hat selbst an der Tötung mitgewirkt.
        ee)   psychologische Theorie (-)
Wäre das Opfer zur Vornahme des konkreten Tötungsaktes psychisch auch selbst in der Lage gewesen, ist Selbstmordbeihilfe, wäre es hierzu psychisch nicht disponiert gewesen, Tötung auf Verlangen gegeben.17
         
  • RG soll Selbstmörder schützen, der selber nicht in der Lage ist, sich sein Leben zu nehmen
  • Tatherrschaftslösung überzeugt nicht, weil Opfer auch bei § 216 bis zu letzt freie Entscheidung über sein Schicksal behält
          Opfer hätte auch selbst auf Gaspedal treten können.
    2.   Subjektiver TB
Hängt von Entscheidung des Streits ab!
  II.   RW
  III.   Schuld



Abwandlung zu Fall 2
allen Theorien § 216!

Fall 3 (§ 216)
Es fehlt an der Ernstlichkeit des Verlangens!

Fall 4 (§ 216) Der Täter ist nicht durch das Opfer zur Tat bestimmt worden.
Aufbautip: § 212 zunächst durchprüfen und bejahen. Danach auf die Priviligierung des § 216 eingehen und verneinen. (Vorsicht, die Rechtsprechung sieht in den §§ 212, 216 unterschiedliche Delikte!)

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1    Nach BGHSt 31, 348.
2    Ständige Rsp.: RGSt 1, 446 (447 ff.); BGHSt 31, 348 (351); h.M.: vergleiche: Lackner, Vor § 211 Rdn. 3.
3    Früher str. heute h.M.: BGHSt 32, 194 (196); S/S-Eser, Vorbem zu §§ 211 ff. Rdn. 13.
4    BGHSt 31, 348, 352.
5    S/S-Eser, Vorbem zu §§ 211 ff. Rdn. 15.
6    Lackner, § 218 Rdn. 3.
7    Nach BGHSt 19, 135.
8    Tröndle-Fischer, § 216 Rdn. 2.
9    S/S-Eser, § 216 Rdn. 5.
10    Tröndle-Fischer, § 216 Rdn. 3.
11    Tröndle-Fischer, § 216 Rdn. 4.
12    Der Aufbau ist unsauber. Im folgenden werden objektive und subjektive Momente vermischt. Er ist hier aus didaktischen Gründen gewählt worden.
13    Baumann-Weber, Strafrecht AT, § 36 I 3c; RG, JW 1921, 579.
14    BGHSt 19, 135; Herzberg, JA 1985, 137; ders. JuS 1988, 771.
15    Roxin, Täterschaft und Teilnahme (5. Aufl. 1989), 566 ff., 570 ff.; ders., NStZ 1987, 347; S/S-Eser, § 216, Rdn. 11; Wessels, Strafrecht BT/1, Rdn. 151.
16    Tröndle-Fischer, § 216 Rdn. 2.
17    Arzt-Weber, LH 1, Rdn. 215; SK-Horn, § 216 Rdn. 11.